Das Morgenmachen-Lesebuch richtet sich an alle (Zukunfts-)Gestalter:innen, Traumtänzer:innen und Himmelsstürmer:innen. An alle, die daran glauben, dass diese Welt noch zu retten ist. Das (Vor-)Spiel verstehe ich als Appell für eine kulturelle Wende, die aus dem Feld der Bildung heraus initiiert wird und strahlenförmig in andere gesellschaftliche Bereiche hineinwirkt, dort zu vielfältigen Veränderungen anstiftet: Bildung als gemeinsame intergenerationelle Gestaltung unserer nächsten Zukunft.
Dieses Buch basiert auf einem Bildungsprojekt, das wir im Bauhaus-Jubiläumsjahr 2019 ausgerichtet haben (vgl.: www.morgenmachen.org). Ein zentrales Ziel des Morgenmachen-Projekts war es, jungen Menschen auf Augenhöhe zu begegnen und ihnen das Selbstverständnis künftiger Kulturträger:innen zu vermitteln, ihren Mut und ihre Neugier zu wecken, sie zu ermächtigen, ihre Stimme zu erheben, sichtbar und zugleich tätig zu werden. Hiermit ist die Hoffnung verbunden, die vielfältigen Erfahrungen weiterzugeben, damit diese weiterwirken können. Während des Projekts haben wir die Stimmen der beteiligten Studierenden und Jugendlichen beharrlich gesammelt, verwahrt und transkribiert. Zusammen mit Zitaten anderer Schreiber- und Denker:innen durchziehen sie in einer ideenreichen Spur aus Statements und Manifesten dieses Buch. Die Zuordnung aller Statements findet sich am Ende des Buches.
Wir danken allen, die zu unserem Buch beigetragen und sich auf das Wagnis eingelassen haben, mit der Feder unser Morgen zu antizipieren. Auch danken wir allen Akteur:innen des Morgenmachen-Projekts, deren Stimmen dieses Buch bereichern.
„Der Begriff des Fortschritts ist in der Idee der Katastrophe zu fundieren. Daß es ‚so weiter‘ geht, ist die Katastrophe.“ (Benjamin [1927–1940] 1982: 260)
„Der Mensch soll die Menschen meiden – und findet Nähe wie nie zuvor. Dystopie und Utopie, Ohnmacht und Möglichkeit: 2020 war nicht bloß ein Ausnahmejahr. Es verändert das Morgen.“ (Decker 2020)
Als wir vor drei Jahren eingeladen wurden, ein universitäres Projekt zum Bauhaus-Jubiläum zu gestalten, entschieden wir uns dafür, die drängende Frage nach zeitgemäßer Bildung mit jener visionären (Kunst-)Schule zu verknüpfen, die bis in unsere Gegenwart hinein zu faszinieren und zu wirken vermag. Die Frage nach unserem Morgen bildete dabei die Klammer zwischen unserer krisenerfüllten Gegenwart und unserer Reise in die Zeit der Weimarer Republik. Wir ahnten noch nicht, dass uns eine ‚Heimsuchung‘ von ungeahntem Ausmaß bevorstünde, die die ohnehin vorhandenen Parallelen zwischen damals und heute um eine zusätzliche ‚ungeheuerliche‘ Komponente ergänzen sollte. Die Pandemie hat unser aller Leben schlagartig verändert und seit mehr als zwei Jahren fest im Griff.
Zu Beginn der Pandemie hat Joseph Vogl folgendes interessantes Denkbild geprägt und unsere Welt im Rückgriff auf das Medium Fotografie als Raum des Übergangs beschrieben:
„Die Welt ist in ein Entwicklerbad gefallen, und es wird noch ein wenig dauern, bis man genau sehen kann, welche Kontraste und Konturen sich für diese und jene Staaten und Regierungen herausprägen werden, schreckliche oder hoffnungsvolle Bilder.“ (Vogl 2020)
Die Welt steht am Scheideweg. Es ist unsere Pflicht, dass wir uns jenen Bildern stellen, die durch die ‚große Krise‘ nach oben gespült werden. Die Pandemie konfrontiert uns mit hoffnungsvollen und schrecklichen Bildern. Diese können wir nicht ignorieren, leugnen oder uns weiter schönreden. In der Bereitschaft, hinzusehen und zu verstehen, liegt der kategorische Imperativ dieser sich bleiern an unsere Fersen heftenden Tage. Die Bilder aus dem Entwicklerbad haben utopischen und dystopischen Charakter. Sie erschöpfen sich nicht darin, unserer möglichen Zukunft modellhaft ins Auge zu sehen, noch sind sie schlichte Warnung oder Versprechen auf eine bessere Zukunft, die wir in ihnen halluzinieren. Die Bilder, von denen Vogl spricht, sind fotografischer Natur. Sie sind real. Das Virus ist real. Der Streit um eine Deutungshoheit über diese Bilder wird auf verschiedenen Terrains erbittert geführt. Auch das ist eine Erfahrung unserer Tage.
„Denn vielleicht, so der Gedanke, lässt sich die Pandemie, durch die wir kollektiv gehen, doch ein bisschen so betrachten, wie eine gewaltige Schwelle.“ (Kittlitz 2021: 56)
„Der Wunsch, die Welt nach der Pandemie nur wieder in die vor der Pandemie zurückzuverwandeln, ist nicht nur fantasielos, sondern wäre auch eine vertane Chance. Auch wenn der Impuls dazu verständlich ist. […] Aber nutzen wir doch auch die Kraft dieses schon so lange gespannten Bogens für weitreichendere Veränderungen – dass viel mehr möglich ist, als gemeinhin angenommen, haben wir ja bewiesen.“ (Wochnik 2021)
Angesichts unserer aktuellen Krisensituation fragt das Morgenmachen-Lesebuch nach komplexitätssteigernden Narrativen. Nicht etwa als Einwand, denn das Faktum unseres Lebens in der Pandemie lässt sich nicht leugnen, wohl aber um unseren Blick wieder etwas zu weiten. Wie wird unser postpandemisches Leben aussehen? Angesichts der Einschnitte, die wir erleben, sehnen wir uns nach einer schnellstmöglichen Rückkehr zum Status quo ante. Ist diese Sehnsucht realistisch oder ist die ‚große Krise‘ nicht vielmehr eine Warnung, nicht in die alte Spur zurückzukehren?
Die an der Nahtstelle zwischen unserer (Um-)Welt und unseren Ängsten, Sehnsüchten und Traumata angesiedelten Künste lehren uns etwas anderes. Die Brüchigkeit unserer menschlichen Existenz erscheint hier nicht als Niederlage, vielmehr ist der Abschied vom Menschsein als krönendem Maß der Schöpfung und die damit verbundene stillschweigende Trauer (seit jeher) mit dem Versprechen verknüpft, andere Formen der Koexistenz fühl- und vorstellbar zu machen. Im Morgenmachen-Lesebuch folgen wir der Spur, die unseren gegenwärtigen Erfahrungshorizont zum Ausgangspunkt eines Umdenkens macht: Wie verändert sich unser Handeln, Fühlen und Träumen? Wohin verschieben sich die Koordinaten unseres Handelns? Was lehrt uns bspw. die Poesie? Wo erkennen wir Spuren einer anderen Ethik, die vom Mit-Sein anderer Lebewesen geprägt ist?
Vielleicht ließe sich die Pandemie auch als Zäsur deuten, die „den erbarmungslosen Kreislauf unterbricht, sein Gesetz suspendiert“ (Liska 2007: 75) und uns zudem dazu verpflichtet, unseren Blick nicht sehnsüchtig in eine unbestimmte Zukunft schweifen zu lassen, sondern uns ganz und gar unserer bewegten Gegenwart und der Frage nach unserem Morgen zu widmen.
Jacques Rancière betont die Notwendigkeit, „der Utopie ihren ‚unwirklichen‘ Charakter zurück zu geben, den einer Montage aus Wörtern und Bildern, die das Territorium des Sichtbaren, Denkbaren und Möglichen neu gestalten. Entsprechend wären die ‚Fiktionen‘ der Kunst und der Politik eher Heterotopien als Utopien.“ (Rancière 2006: 64)
Die in dieser Weise verstandene Utopie/Heterotopie beinhaltet das Versprechen, dass es in unserer gemeinsamen Verantwortung liegt, unsere Welt(en) neu zu vermessen, die Reichweite unseres gemeinsamen Handelns im Transfer zwischen dem, was ist, und dem, was sein könnte, neu auszurichten: uns zu Zukunftsgestalter:innen auszubilden, die im aufrichtigen Begehren nach einem für alle besseren Morgen mit beiden Füßen fest auf der Erde stehen. Der so bereitete Boden öffnet sich unserer Zuversicht in mannigfaltiger Weise. Wir bewegen uns auf dem schmalen Grat zwischen dem Sichtbaren, Denkbaren und dem Möglichen, am Abgrund entlang, der vagen Ahnung folgend, dass das, was ist, nicht alles ist. Unsere Lust flankiert unseren Wunsch, den Tatsachen ins Auge zu sehen und nicht zu verzweifeln, nicht aufzugeben. Gewinnen wir etwas Zeit; verspielen wir unseren ‚Vorsprung‘; machen wir uns also auf den Weg: „von der unmöglichen Ordnung zur möglichen Unordnung“ (Willke 2003: Einband).
„Aufzubrechen. So komm! daß wir das Offene schauen, Daß ein Eigenes wir suchen, so weit es auch ist.“ (Hölderlin [1801] 1953: 96)
„Zum vielleicht ersten Mal in der Geschichte führen die Menschen dieselben Gespräche über dieselben Themen. Wir alle teilen dieselbe Angst. Indem wir zu Hause blieben und zahllose Stunden vor Bildschirmen verbrachten, erkannten wir die Ähnlichkeit zwischen unserer eigenen Erfahrung und der aller anderen. Es könnte ein vorübergehender historischer Moment sein, aber wir können nicht leugnen, dass wir immer besser verstehen, was es bedeutet, in einer einzigen Welt zu leben.“ (Krastev 2021)
Wie wird sich diese Erfahrung auf unsere Bereitschaft auswirken, anzuerkennen, dass die imaginären Grenzen meines Lebensraums – seien es territoriale, regionale oder emotionale – mit Blick auf die Zukunft unseres gemeinsamen Planeten ihre sinnstiftende Bedeutung weitgehend einbüßen? Die drängenden Probleme unserer Zeit lassen sich jedenfalls auf diesem Parcours nicht lösen, mehr noch liegt in der an Besitz und Herrschaft gekoppelten Anspruchshaltung der Industrienationen jene unbarmherzige Matrix, deren dunkler Schatten uns in der fehlenden Bereitschaft (wieder)begegnet, das Virus als real existierende globale Herausforderung anzuerkennen und das eigene Handeln darauf abzustimmen.
Ganz zu Anfang der Pandemie, als alle noch erschrocken und ängstlich – wie in einer Zeitmaschine – nach Heinsberg schauten, bringt der Landrat Stephan Pusch es auf den Punkt:
„Das einzige Medikament ist bislang die Solidarität.“ (Diening 2020)
Das zu Beginn der Pandemie zu vernehmende Beschwören eines Gemeinschaftsgefühls und einer uneingeschränkten Solidarität um des Überlebens willen wirkte als unvorhersehbarer Einschnitt in unsere Spaß- und Überbietungskultur.
Im diffusen unheimlichen Angesicht eines ungreifbaren, unsichtbaren Gegners haben wir – neben der Impfung – nichts anderes in der Hand als den Umschwung zu einer solidarischen (Welt-)Gesellschaft. Dies bedeutet konkret, dass wir unser Verhalten sowie unsere politischen Entscheidungen auf das Überleben der Verletzlichsten unter uns abstimmen werden, um deren Leben zu schützen.
„Die Epidemie ermuntert uns also, uns als Teil eines Kollektivs zu begreifen. Sie zwingt uns zu einer Anstrengung unserer Vorstellungskraft, die wir in normalen Zeiten nicht gewohnt sind: uns unauflöslich mit den anderen verbunden zu sehen und sie bei unseren individuellen Entscheidungen zu berücksichtigen. In Zeiten der Ansteckung sind wir ein einziger Organismus. In Zeiten der Ansteckung werden wir wieder zur Gemeinschaft.“ (Giordano 2020: 38)
Die Prinzipien unbegrenzten Wachstums, von Prosperität und Stärke weichen dem Postulat des Einhaltens, des augenblicklichen Aussetzens des gewohnten Höher, Schneller, Weiter – der (Selbst-)Optimierungslogik, die jedem von uns in die Wiege gelegt wird. Die erhöhte Vulnerabilität eines Teils unserer Gesellschaft ist Sinnbild für die Vulnerabilität unserer gesamten (Welt-)Gesellschaft. Ein ‚Sozialexperiment‘ ungeahnten Ausmaßes stellt uns vor große Herausforderungen. Halbherzige Rettungsschirme, die darauf abzielen, die Ordnung sowie Macht- und Ausbeutungsverhältnisse zu erhalten, stützen das globale Ungleichgewicht.
Die Rhetorik des Krieges, die von einigen (politischen) Akteur:innen zu Beginn der ‚großen Krise‘ nur allzu leichtfertig im Munde geführt wurde, rührt exakt an dieses Missverständnis. Selbst in der Logik von Sieg und Niederlage kann diesem unsichtbaren Gegner kein Krieg erklärt werden. Dies ist schlicht eine Machtdemonstration des geschwächten Nationalstaates. Es ist zudem ein Zeichen der Ohnmacht. Wir befinden uns in einem Zustand, in dem jeder aufgefordert ist, sein Handeln in der (Für-)Sorge um den Nächsten zu überdenken, sich neu auszurichten, sich solidarisch zu erklären und vor allem auch zu verhalten. Spätestens seit Corona wissen wir, dass dies Menschenleben retten kann.
Es geht um Leben und Tod. Das ist richtig. Nur ist dies kein Krieg zwischen Nationen, sondern die (Welt-)Gemeinschaft kämpft gemeinsam ums Überleben. ‚America first‘ ist Schnee von gestern oder – um es mit den Worten Stefan Zweigs zu sagen – gehört der ‚Welt von gestern‘ an. So lautet der Titel seiner besonders jetzt sehr lesenswerten Autobiografie, in der er das abrupte und letztlich verheerende Herausfallen aus ‚der Welt der Sicherheit‘ seiner Väter und Großväter beschreibt. Diese Krise fordert den Staat, die Demokratie heraus. Um dem Virus Einhalt zu gebieten, bedarf es eines nachhaltigen Wiedererstarkens unserer geschwächten Zivilgesellschaft. Die folgende Stellungnahme des ‚Rats für Migration‘ zu den durch die Pandemie noch verschärften katastrophalen Lebensbedingungen vieler Geflüchteter hat einen stark appellativen Charakter und spannt den Horizont für ein bedingungsloses solidarisches Miteinander auf, das nicht mehr an Herkunft, Territorium und Besitz gebunden ist und das den Rahmen unseres Handelns abstecken sollte. Dieser Imperativ verbindet den Willen, das von uns mitverschuldete unermessliche Leiden vieler Menschen nicht mehr zu dulden, mit der Einsicht, dass wir diesen Planeten nur gemeinsam retten können.
„Wir – dies ist kein national oder kontinental bestimmtes Wir –, […] sollten uns ermutigen, das Projekt globaler und planetarischer Solidarität in der Entwicklung des (eigenen) Denkens, Empfindens und Handelns zu stärken und in diesem Sinne aktiv an der Gestaltung einer weltumspannenden Verantwortungsgemeinschaft mitzuwirken.“ (Karakaşoğlu/Mecheril 2020)
Das Morgenmachen-Lesebuch will Zeugnis ablegen von den vielfältigen Verflechtungen hyperkomplexer Lebenswelten. So verstanden ist es ein deutliches Bekenntnis zu steter Veränderung, verbunden mit dem Versprechen einer gerechteren Gesellschaft, die aus den Initiativen und der gestalterischen Kraft der Vielen erwachsen kann.
„So schnell, wie bei jedem Husten des Wirtschaftssystems nach Diesel-, Abwrack- und sonstigen Prämien für VW, Mercedes & Co. gerufen wird, so vergeblich erwartete man nun, dass nach einem Jahr Pandemie die Schulen und Kitas auf einen Stand beim Corona-Schutz gebracht wurden, der eines europäischen Staates würdig ist.“ (Trappe 2021)
Die nicht erst seit Corona offenkundige Überforderung des Kultus-Systems der viertgrößten Industrienation der Welt mutet wenig überraschend an. Die Fallstricke eines Bildungssystems, das den Rückstau dringend erforderlicher Reformen in dem gebetsmühlenartig wiederholten Bekenntnis zum Präsenzunterricht mit dem Recht auf Bildung verwechselt und dabei beteuert, kein Kind verlieren zu wollen, werden in der Pandemie deutlich sichtbar. Angesichts des Versagens und der Weigerung, individuelle Lösungen in Aussicht zu stellen und die unterschiedlichen Erfordernisse eines frappierenden Bildungsgefälles zum Ausgangspunkt eines umsichtigen sensiblen Krisenmanagements werden zu lassen, erscheint der Ruf nach der ‚Schule als Lebensort‘ als Lippenbekenntnis einer an Leistung und Erreichen von Lernzielen orientierten Verwertungsgesellschaft. Die Forderung nach zügigen Schulöffnungen wurde mit dem Einstehen für Bildungsgerechtigkeit begründet, weil es nach einem ganzen Jahr offensichtlich nur sehr schleppend gelungen war, Alternativen (wie z.B. Wechselunterricht/hybrider Unterricht/Distanzlernen) anzubieten und umzusetzen.
Diese Form von Augenwischerei verdeckt ein tiefer sitzendes Problem. So mangelt es insbesondere an der Bereitschaft der politischen Entscheidungsträger:innen, nach den vielfältigen Gründen für das Bildungsgefälle zu fragen, denn das würde damit einhergehen, sich zu umfassenden Reformen und einem Paradigmenwechsel zu bekennen.
„You never change things by fighting the existing reality. To change something, build a new model that makes the existing model obsolete.“ (Fuller, zit. in Quinn 1999: 137)
Buckminster Fuller hebt hervor, dass die Bewältigung schwerer gesellschaftlicher Krisen ein konsequentes Umdenken erfordert und die Bereitschaft, eine neue Form von Bildung zu entwickeln. So kündet die Schulpolitik, die nicht ansatzweise auf die enormen Herausforderungen reagiert hat, ganz nebenbei von der Notwendigkeit umfassender Reformen auf dem Feld der (schulischen) Bildung.
Kinder haben ein Recht auf Bildung. Das ist richtig. Sie haben aber ebenso – wie wir Erwachsene auch – ein Recht auf Gesundheit und körperliche Unversehrtheit. Alle Menschenrechte und Grundrechte sind gleichwertig und gleich gültig. Bei der Güterabwägung muss eine ethische Begründung erfolgen. Solange außer dem phasenweisen Tragen von Masken keine weiteren Schutzmaßnahmen in Schulen getroffen werden (Luftfilter, Wechselunterricht, kleinere Lerngruppen, hybride Lernformate etc.), ist es unredlich, Bildung gegen Gesundheit auszuspielen. Die nachrangig behandelte Frage, wie ein sicheres Lernen in der Pandemie gewährleistet werden kann, zeugt von der fehlenden Bereitschaft (der KMK), Initiative zu ergreifen. So wird aus dem viel gerühmten Sozialraum phasenweise ein Angstraum, und damit das Gegenteil von dem, was unsere Kinder in dieser Zeit gebraucht hätten, nämlich einen Schutzraum, in dem es nicht primär um das Erreichen von Lernzielen geht, sondern wo auch Platz wäre, gemeinsam groß und stark zu werden. Das würde unsere Kinder nebenbei auch besser auf künftige Krisen vorbereiten.
In ihrem Projekt ,Wahlkampagne‘ lädt die Künstlerin Adrian Piper zum Protest ein. In einem Interview betont sie, dass die Demokratie gut gebildete Bürger:innen voraussetzt und die Politik dies gegen besseres Wissen wenig beherzigt, sondern lediglich als Parole oder Slogan nutzt, um Wahlen zu gewinnen:
„Gleichzeitig beobachte ich, dass Politiker*innen vor der Wahl oft die Wichtigkeit der Bildung betonen, aber nachher nur Pflaster anbieten: hier PCs in Klassenzimmern, dort eine Schulsanierung. Bildung ist nie politisches Hauptthema. Scheinbar ist anderes wichtiger: Klimawandel, Armut usw. Aber das sind nur Folgeprobleme, deren Lösungen ein gutes Bildungssystem voraussetzen.“ (Hofrichter 2021)
Wie Piper ausführt, geht es „um das Verhältnis des Menschen zu seinen Werten und seiner Leistung, die er durch die Arbeit erbringt. Bildung befördert die Entwicklung von Autonomie, Zuversicht und Selbstbestimmung. Egal, ob man Raumpflegerin oder Tischlerin oder Komponistin oder Ärztin ist“ (ebd.). Die fehlende politische Priorisierung von Bildung ist Teil eines größeren gesellschaftlichen Problems: „Ich tue mein Bestes, keine Parallelen zur Vernachlässigung der Bildung der deutschen Besitzlosen zu finden. Es darf nicht sein, dass Politiker*innen Bildung nicht zum Hauptthema machen, weil sie fürchten, was eine gebildete Besitzlosenklasse damit machen würde.“ (ebd.) Eine Politik, die wichtige Reformen aussitzt, hat auch an einer gefährlichen Gratwanderung teil, denn sie verschließt die Augen vor massiven gesellschaftlichen Problemen.
Wie die sich stetig wiederholenden inhaltsleeren Debatten um Präsenz- oder Distanzunterricht gezeigt haben, ist die Chance auf eine andere Art der Bildung mit Ansage verpasst worden, und zwar u.a. auch mit dem wohlfeilen Argument, mit dem Ermöglichen des Präsenzunterrichts – trotz steigender Inzidenzen – ein Stück Bildungsgerechtigkeit zu garantieren, statt bspw. zu fragen, wie es möglich wäre, zeitnah Distanz- bzw. Hybridunterricht für alle zu ermöglichen. Dies allerdings hätte auch mit einem Wechsel der Haltung einhergehen müssen. So ist bspw. das strikte Festhalten an konventionellen Lernformen Indiz für ein Unbehagen gegenüber dem Neuen, ein ohnmächtiges Verpassen von dringend erforderlichen Reformen sowie einen systemisch bedingten Aufschub von Entscheidungen, was den im System gefangenen Akteur:innen neue Handlungsmöglichkeiten erschwert, statt sie zu ermächtigen, mutig neue Wege zu erproben. Erst eine offene und ehrliche Bestandsaufnahme der vielfältigen Herausforderungen, mit denen sich schulische Bildung heute konfrontiert sieht, könnte die Weichen für einen Neuanfang stellen.
„Hier allerdings liegt das eigentliche Problem. Denn ‚normal‘ wird auch nach mehr als einem Jahr Ausnahmezustand weiterhin heißen: frontal, live und mit viel Kreide. Würden die Pisa-Daten aus dem zwangsdigitalen Pandemiejahr 2020 besser aussehen? Wohl kaum. Eine digitale Revolution an den Schulen in der Krise ist ausgeblieben – und das heißt auch, dass es damit in naher Zukunft nichts wird. [...] Zwar gibt es vielerorts innovative Konzepte, tolle Projekte und fantastisch funktionierenden Digitalunterricht – doch das alles hängt vom Engagement einzelner Schulleiterinnen und Lehrer ab. Andernorts drucken Eltern stundenlang schlecht gescannte Arbeitsblätter für ihre Kinder aus. Ein echtes Umdenken in der Bildungspolitik hat es nicht gegeben“ (Myrrhe 2021).
Die hier formulierte Einsicht rührt an die Grundfesten unseres Bildungssystems und lässt die Frage, worin diese Form der Abwehr eigentlich begründet ist, unausweichlich erscheinen. Dass es sich beim nicht erst seit der Pandemie zu beobachtenden Aufschub um ein multifaktorielles Phänomen handelt, das vielfältige Antworten erfordert, die die Komplexität des Gesamtgeschehens im Blick haben, gilt selbstredend und ist dennoch Teil des Problems.
„Ich wünsche mir, dass die Schule ordentlicher/fröhlicher und nicht mehr kaputt wäre und dass die Lehrer generell mehr Verständnis hätten! Dass man immer in die Klasse darf und dass man vielleicht umsonst Essen holen kann.“ (Heepen 2019)
In unserem Morgenmachen-Projekt konnten wir aus dem Vollem schöpfen. Dabei hat uns das Bauhaus als Ereignis und Phänomen interessiert, also auch seine dezidiert soziale Dimension. Das Alleinstellungsmerkmal war ja, dass in dieser „Schule des Wagemuts“ (Schleper 2018: 8) so vielfältige Fäden zusammenliefen und innerhalb einer sehr kurzen Zeitspanne ein erstaunliches Innovationspotenzial freigesetzt werden konnte. Es war uns wichtig, in unseren Schulprojekten auch diesen ‚Geist‘ oder besser ‚diese Geister‘ zu wecken. Ziel war es, den Schulraum in einen Möglichkeitsort, in eine Art Zukunftslabor zu verwandeln und dabei den Bezug auf das historische Bauhaus als Quelle der Inspiration und als Spiegel unserer Zeit nie aus dem Blick zu verlieren.
Die inspirierende Nähe unterschiedlicher (Kunst-)Strömungen, Techniken, Persönlichkeiten, das breite Spektrum der Tätigkeitsbereiche und Werkstätten – Architektur, Design, Werbung –, die Nähe zum Alltag, die Idee, an der Gestaltung einer modernen Gesellschaft mitzuarbeiten, Einfluss nehmen zu können, all das stand im Mittelpunkt unserer Auseinandersetzung.
Selbstverständlich konnten wir das so nicht 1:1 in die Gegenwart übersetzen, wohl aber den Schüler:innen im eigenen Tun nahebringen, worin das emanzipatorische Potenzial dieser Schule lag. Das wollten wir gemeinsam mit unseren Studierenden in den Schulen vermitteln und die Jugendlichen dafür sensibilisieren, dass das Bauhaus eben sehr viel mehr geleistet hat, als neue Maßstäbe für das moderne Bauen zu setzen, und dass der Erinnerungsraum, insbesondere für kommende Generationen, das Versprechen bereithält, der Welt gestaltend zu begegnen, Spuren zu hinterlassen, sichtbar zu werden. Diesen ‚Geist‘ haben wir mit der Frage ‚Woraus wird Morgen gemacht sein?‘ in unsere Gegenwart getragen.
In Anlehnung an das Bauhaus haben wir das in der Etymologie des Begriffs bereits angelegte performative Moment von Bildung – das Bilden und Gestalten – genauer betrachtet. Seit jeher eignet dem überaus dehnbaren Begriff von Bildung eine Dialektik von Formen und Geformtwerden. Wie lässt sich diese Dialektik produktiv machen innerhalb eines Verständnisses von Bildung, das die generationenübergreifenden Austauschprozesse gleichwertiger Akteur:innen im Sinne einer gesellschaftsverändernden und -formenden Kraft versteht? Das Anstoßen und Moderieren interaktiver Lernprozesse auf Augenhöhe bedarf zunächst eines Blickwechsels und der Bereitschaft aller Akteur:innen, sich auf diesen Prozess einzulassen. Die Frage, wie sich Bildung institutionsübergreifend positiv auf demokratische Prozesse auswirken kann, rückt ihr emanzipatorisches Potenzial in den Blick. So können offene Bildungsprozesse eine wichtige Vermittlerrolle in einem umfassenden gesellschaftlichen Transformationsprozess spielen, wobei die wirksamen Modi Operandi Sichtbarkeit und Teilhabe wären: Wie können, wie wollen wir künftig miteinander lernen? Wo ist dringender Handlungsbedarf? An der Frage, wie es gelingen wird, Bildung für alle zugänglich und attraktiv zu gestalten, entscheidet sich die Zukunft unserer Gesellschaft.
Ziel der Intervention in den Schulen war es, eine Werkstattatmosphäre zu erzeugen und den Schulraum auf diese Weise in einen Ort des Experimentierens und Spielens zu verwandeln. Gefördert werden sollte die Lust am Spiel im Sinne einer ‚ästhetischen Praxis‘, die im Ausloten zwischen früher und heute, Schule, Alltag und Laboratorium sowie im Transfer unterschiedlicher kreativer Ausdrucksweisen den Schüler:innen die Möglichkeit bot, ihre eigene Stimme in einem erweiterten öffentlichen Raum hörbar werden zu lassen. Der Erinnerungsraum sollte sich in einen Resonanzraum verwandeln: Im Erinnern an das Bauhaus galt es, das Bewusstsein für die eigene Zeit zu schärfen und dafür, dass Kunst und Leben, und auch Schule und Leben keine Gegensätze bilden, sondern uns Möglichkeits-, Denk- und Handlungsräume eröffnen. Zudem wurde unser Blick für das emanzipatorische Potenzial der Künste geschärft.
Das Morgenmachen-Lesebuch verstehen wir als eine besondere Form der Wertschätzung für die Anliegen der Schüler:innen und Studierenden, deren gesellschaftlicher Relevanz (als Form der Teilhabe) auf diese Weise noch einmal Nachdruck verliehen werden soll. Dies zielt darauf, sich auch von Universitätsseite kreativ, eigenständig und hörbar in den öffentlichen Diskurs einzumischen, und ist zudem ein Plädoyer für eine aktive Demokratie.
„Die Kunst antizipiert jenes Ziel, das die Arbeit noch nicht aus eigener Kraft und für sich selbst erreichen kann: die Abschaffung der Gegensätze.“ (Rancière 2006: 68)
Kunst und Kunsterziehung spielten in der Zeit des Bauhauses und der Avantgarden eine zentrale Rolle für gesellschaftliche Transformationsprozesse. Das Bauhaus als Denkraum eröffnet damit eine Perspektive weitreichender Reformen, in der die Künste neue Formen von Gemeinschaft und zudem umfassende Emanzipationsprozesse anstoßen können. Ziel des (Bildungs-)Projekts war es, den hiermit verknüpften Gedanken eines Transfers von Kunst und Leben wiederzubeleben. Ästhetische Praxis meint hier das Generieren von kreativen (Austausch-)Prozessen, in denen Denken und Handeln sowie Theorie und Praxis wechselseitig ineinandergreifen. Um das Potenzial dieser auf Selbstbestimmung ausgerichteten Prozesse ausschöpfen zu können, sind die Einbettung in einen größeren kulturellen Handlungsrahmen sowie die stete Reflexion historischer Bezugnahmen und Entwicklungen unbedingt erforderlich. Ein solches Vorhaben lässt sich folglich nicht in Form des gewöhnlichen (Kunst-)Unterrichts umsetzen, sondern erfordert einen erweiterten Handlungsrahmen, der auf Partizipation und situatives Lernen setzt. Ästhetische Praxis umschreibt einen aktiven und gestaltenden Zugang zur Welt, der auf komplexe Sinngebungsprozesse in einer pluralistischen und dynamischen Gesellschaft einzuwirken vermag. Die Engführung von Erfahrungs-, Denk- und Handlungsräumen, der ironisch-subversive Umgang mit gesellschaftlichen Prozessen sowie das Bauen und Kreieren einer Gesellschaft als autonomer Denkraum eröffnen konkret vielfältige Gestaltungsmöglichkeiten. Wir sehen hierin zudem einen engagierten Beitrag zu einer lebendigen, sparten- und generationenübergreifenden Wissenschaft. Über die Grenzen von Kategorisierungsversuchen hinweg und durch sie hindurch ergänzen sich die unterschiedlichen Modi, Perspektiven und Disziplinen zu einem irreduziblen, in seiner Vielschichtigkeit einzigartigen Ereignis: dem Kaleidoskop Leben.
Durch den Anschluss an verschiedene Bereiche des alltäglichen Lebens kann die Philosophie selbst als eine Praxis, die Reflexion und Handlung verbindet, Teil unterschiedlicher Lebensrealitäten werden. Es eröffnet sich ein genuin politischer Raum für Rekonfiguration, Verknüpfung und eine interaktive Diskussionsplattform des (intra)kulturellen Austauschs: Ästhetische Praxis kann in diesem Sinne als gesellschaftlich relevante gemeinsame Gestaltungsarbeit verstanden werden. Ziel des (Bildungs-)Projekts war es, den fruchtbaren Austauschprozess darüber, wie wir unsere Zukunft aktiv gestalten können, weiter wachsen zu lassen. Eine solche Auseinandersetzung ist angesichts der aktuellen weltgesellschaftlichen Herausforderungen unumgänglich. Mehr noch: Wir empfinden dies als unbedingte Verantwortung, uns und anderen Teilen der Welt gegenüber. Es ist ein wesentlicher Aspekt des – zwischen theoretischer und ästhetischer Praxis changierenden – Emanzipationsprozesses.
„das ziel des bauhauses ist eben kein stil, kein rezept und keine mode! es wird lebendig sein, solange es nicht an der form hängt, sondern hinter der wandelbaren form das fluidum des lebens selbst sucht!“ (Gropius 1923: 11)
Die materiell sinnliche Ausrichtung von Jacques Rancières folgenreicher Verschiebung des Ästhetikbegriffs hin zu einer ‚Politik der Ästhetik‘ war für unser Projekt von besonderer Relevanz. Interessanterweise ist die Neudeutung der widerständigen Wirkungsweisen der Künste verknüpft mit einer re-visionären Lektüre der Moderne, die auf eine Verbindung von Kunst und Politik zielt. Rancière begreift die Künste als Tätigkeitsformen und betont damit zugleich ihre materielle Seite. Dabei scheint es ein zentrales Anliegen zu sein, das bislang nicht ausgeschöpfte Potenzial der Avantgarde als realen Möglichkeitsraum zu (re)aktivieren. Das auf Materialität und einen kollektiven sinnlichen Erfahrungshorizont gerichtete erweiterte Verständnis der Künste zielt auf die Möglichkeit gesellschaftlicher Veränderung. Weder erschöpft sich die Moderne im Paradigma der Brüche, noch ist ihr Abgesang beschlossene Sache.
„Aus dieser verspäteten Anerkennung einer grundlegenden Gegebenheit des ästhetischen Regimes der Künste einen faktischen zeitlichen Einschnitt und das tatsächliche Ende einer historischen Epoche zu machen, wäre nicht wirklich nötig gewesen.“ (Rancière 2006: 47)
Anschlussfähig für Rancière ist jene Idee von Avantgarde, die im Schiller’schen Modell der ästhetischen Antizipation zukünftiger Freiheit wurzelt. „Wenn der Begriff der Avantgarde innerhalb des ästhetischen Regimes der Künste eine Rolle spielt, dann in Form dieser zweiten Vorstellung. Nicht als Vorhut einer künstlerischen Neuerung, sondern als Erfindung sinnlicher Formen und materieller Rahmenbedingungen für ein künftiges Leben.“ (ebd.: 48) Im Vordergrund steht dabei das nicht ausgeschöpfte Potenzial (der Moderne), den politischen Raum gemeinschaftlich sinnlich neu zu vermessen und von innen heraus zu verändern. Das Zukünftige sucht uns nicht heim. Zentral ist vielmehr das ursächliche Versprechen der Demokratie: ‚Wir‘ verantworten und gestalten unsere Zukunft aktiv selbst. In jedem Moment sind wir Zukunftsgestalter. Die zentrale Frage unseres Projekts ‚Woraus wird Morgen gemacht sein?‘ zielt produktiv auf diese Praxis der Annahme des Zukünftigen und zwar innerhalb verschiedener kollaborativer Tätigkeitsformen und -felder.
Wie Rancière betont, ist der im Transfer von Politik und Ästhetik entstehende Raum kein Raum primär für Ideen, sondern für „die Erfindung sinnlicher Formen und materieller Rahmenbedingungen“ (ebd.: 48). Innerhalb des Regimes der Künste öffnet sich ein realer, materiell-sinnlich kollektiver Erfahrungsraum, ein Artikulations- und Aktionsraum, in dem sich das Zukünftige in sinnlichen Formen als Versprechen bereits abzeichnet. Dieser Artikulationsraum steht jedem/jeder zur Verfügung. In den – zwischen den Feldern Ästhetik, Politik und Demokratie neu vermessenen – (Aktions-)Räumen gibt es keine exponierten Positionen. Alle Akteur:innen sind gleichwertig und gleichberechtigt. Rancières Zuspitzung des Avantgardebegriffs zielt nicht zuletzt auf die Produktivität des Lebens selbst und der damit verbundenen Aufhebung der Trennung von Leben und Kunst als ein zentrales Erbe der Avantgarde:
„Genau das hat die ‚ästhetische‘ Avantgarde der ‚politischen‘ Avantgarde mitgegeben oder wollte oder glaubte es ihr
mitzugeben, als sie aus der Politik ein totales Programm des Lebens machte.“ (ebd.: 48f.)
„Wir leben in einer Gesellschaft, in der Wissen gelehrt und Unwissen praktiziert wird, ja, in der Tag für Tag gelernt wird, wie man systematisch ignorieren kann, was man weiß.“ (Welzer 2019: 24)
Innerhalb seiner Analyse der paradoxen Ausrichtung westlicher Regime problematisiert Harald Welzer die nach wie vor weit verbreitete Praxis gegen besseres Wissen eine Politik fortzusetzen, die für alle Bewohner dieser Erde zum Kollaps führen wird.
„Aber der Stoffwechsel, auf dem dieser Fortschritt beruht, ist nicht fortsetzbar im 21. Jahrhundert, dazu ist er – für das Erdsystem, das Klima, die Biosphäre, die Meere, viele Menschen – zu zerstörerisch.“ (ebd.: 25)
So ist es nur ein schwacher ‚Trost‘, dass die augenblickliche Aufrechterhaltung unseres Wohlstands und erwartbaren Lebensstandards vorerst noch gesichert scheint. Wenn wir uns im nächsten Schritt klarmachen, dass dieser Wohlstand global gesehen teuer erkauft ist und auf Ausbeutung, Kriegen sowie der fortschreitenden Zerstörung unseres Lebensraumes basiert, müssen wir uns sehr ernsthaft fragen, wie wir dies vor dem Hintergrund unserer viel besprochenen zivilisatorischen Errungenschaften haben verantworten und weiterhin in Kauf nehmen können. Jean Ziegler weist im Rahmen seiner kenntnisreichen Analyse unserer imperialen Lebensweise darauf hin, dass, „[d]ie Wirtschaft […] kein natürliches Phänomen ist“ (Ziegler 2005: 16), sondern „ein Instrument, das es in den Dienst eines einzigen Zwecks zu stellen gilt: dem Streben nach dem gemeinsamen Glück.“ (ebd.: 16) Die globale Ungleichheit jedoch offenbart etwas anderes: „In den Ländern der südlichen Erdhälfte füllen sich die Massengräber aufgrund von Epidemien und Hungersnöten mit immer zahlreicheren Opfern. Ausgrenzung und Arbeitslosigkeit herrschen in der westlichen Welt. Aber die neuen kapitalistischen Feudalsysteme gedeihen prächtig.“ (ebd.: 32f.) Darüber, auf welchem Kontinent ich, meine Freunde und meine Familie leben, ob wir vor Hunger, Verfolgung und Folter geschützt sind, ob wir frei entscheiden können, wohin wir uns bewegen, entscheidet „nichts anderes als der Zufall der Geburt“ (ebd.: 288).
Die Flutkatastrophe in Mitteleuropa, die Abschwächung des Nordatlantikstroms, die Brände in Südeuropa, Russland, Brasilien und Kalifornien, Hitzewellen, Dürreperioden und Waldbrände, das Sturmtief Eugen und der Tornado in Tschechien … dies sind nur ein paar der Extremwetterereignisse, die innerhalb der ersten Hälfte des Jahres 2021 einen schwachen Vorgeschmack auf die Szenarien gegeben haben, die noch folgen mögen. Der sechste Weltklimabericht (IPCC 2021), macht in drastischer Weise deutlich, dass in diesem Jahrzehnt entscheidende Maßnahmen zur Regulierung des Klimas unternommen werden müssen.
Wie in der Pandemie steht die Mehrheit der politisch Verantwortlichen angesichts der Zerstörungsgewalt unter dem Eindruck einer tiefgreifenden Zäsur, die ein stoisches ‚Weiter wie zuvor‘ als eigentliche Katastrophe erscheinen lassen mag. Plakative Metaphern wie Markus Söders vielzitierter ‚Weckruf der Natur‘ mahnen zum Aufbruch. Inwiefern eine zwischen Wahlkampf und fortgesetztem Krisenmanagement aufgeriebene Politik in der Lage sein wird, nun gemeinsam konsequent und mutig zu handeln, wird sich zeigen.
„In der Jugend, die allmählich lernen soll zu arbeiten, sich selbst ernst zu nehmen, sich selbst zu erziehen, im Vertrauen zu dieser Jugend vertraut die Menschheit ihrer Zukunft, die nicht nur soviel mehr erfüllt ist vom Geiste der Zukunft – nein! – die überhaupt soviel mehr erfüllt ist vom Geiste, die die Freude und den Mut neuer Kulturträger in sich fühlt.“ (Benjamin [1912] 1977: 5)
Eine Politik des Aussitzens und der Ignoranz versündigt sich an den kommenden Generationen, denen zugemutet wird, sich in einem gigantischen Scherbenhaufen einzurichten, ohne im Geringsten darauf vorbereitet worden zu sein. Unsere derzeit vielleicht engagierteste Schulreformerin, Margret Rasfeld, sieht die Schule in der Verantwortung, die Schüler:innen zu Zukunftsgestalter:innen auszubilden. Dafür bedarf es eines weitaus größeren Handlungsfeldes, als es bislang im fächerorientierten Curriculum vorgesehen ist: Der „UNESCO-Bericht für das 21. Jahrhundert plädiert für eine Neuausrichtung und Neuorganisation des Curriculums entlang der vier Säulen: Lernen, Wissen zu erwerben; Lernen, zusammenzuleben; Lernen, zu handeln; Lernen für das Leben.“ (Rasfeld 2018: 17)
Angesichts der derzeit großen und – wie es scheinen mag – allumfassenden Krise bekommt dieser Aspekt nun eine weitere, besonders dringliche Bedeutungsdimension. Wir müssen unsere Kinder eben nicht nur zu Zukunftsgestalter:innen, sondern auch dazu ausbilden, in Krisensituationen agil und kooperativ handeln zu können: „Um zu fördern, was die Gesellschaft für die große Transformation braucht: mutige und kreative Weltbürger mit Empathie und Gestaltungskompetenz. Menschen mit Lösungshaltungen und Handlungsmut, die bereit sind, ihr Wissen, ihre Kompetenzen und ihre Herzkraft in den Dienst gemeinsamer Anliegen zu stellen und die es gewohnt sind, Verantwortung zu übernehmen. Verantwortung für sich, für ihre Mitmenschen und für unseren Planeten, Mutter Erde.“ (ebd.: 22)
Sollten der Blickwechsel sowie die nachhaltige institutionelle Verankerung von Bildung innerhalb eines generationen- und spartenübergreifenden gemeinschaftlichen Lernens gelingen, dann hätten diese das Potenzial, gesellschaftliche Veränderung zu moderieren und voranzutreiben. Das Profil künftiger Tätigkeitsfelder von (kultureller) Bildung würde demnach nicht mehr primär darin bestehen, die vielfältigen gesellschaftlichen Löcher zu stopfen und Konfliktfelder zu moderieren sowie zu beschwichtigen. Vielmehr käme diesem Feld eine aktiv gestaltende Rolle zu, in die alle beteiligten Akteur:innen konstruktiv und gleichberechtigt eingebunden werden könnten. Dies wäre mit der Bereitschaft verknüpft, Kultur und Bildung als dynamischen und ergebnisoffenen Prozess wechselseitiger Einflussnahme und Interessensbekundung zu verstehen. Zeitgemäße Bildung könnte einen wesentlichen Beitrag zu einer Partizipationskultur im eigentlichen Sinne und zu einer aktiven Demokratie leisten, die die Stimmen und Bedürfnisse gerade jener in den Blick nimmt, die von der öffentlichen Meinung häufig ausgeschlossen werden (z.B. Kinder und Jugendliche, insbesondere mit sog. Migrationshintergrund).
Als Greta Thunberg sich jeden Freitag mit einem selbst gebastelten Schild vor das schwedische Parlament stellte, geschah dies aus dem untrüglichen Gefühl, dass gerade ein Unrecht geschieht: Die Zukunft kommender Generationen steht auf dem Spiel. Nicht mehr und nicht weniger. Da macht es wenig Sinn, brav die Schulbank zu drücken und im (alt)bekannten Modus/Stil gebildet zu werden, wenn es doch einen Aufstand anzuzetteln gilt: den Aufstand der Kinder und Jugendlichen gegen eine Politik des Wegsehens, die in erster Linie dem Machterhalt und der Aufrechterhaltung des Status quo dient. In einem sehr interessanten Gespräch zu der Frage, wie sich eine ‚Politik des Gemeinwohls‘ konkret umsetzen ließe und welche Akteur:innen die Initiative ergreifen könnten, formuliert Alain Badiou die Möglichkeit einer Allianz zwischen der Jugend und dem nomadischen Proletariat. Weit davon entfernt, mögliche neue widerständige (Lebens-)Formen und Praktiken als illusorisch abzutun, zeichnet sich hier eine realistische Vorstellung einer politischen Bewegung ab, die das globale Ungleichgewicht zum Ausgangspunkt ihres Engagements macht. Wesentliche Triebkraft dieser Allianz wäre der gemeinsam empfundene tiefe Wunsch, unsere krisenbewegte Welt nicht tatenlos einer durch wirtschaftliche Interessen dominierten Politik zu überlassen, sondern gemeinsam für eine gerechte und lebenswerte Zukunft zu streiten.
„Ich denke es gibt innerhalb der westlichen Jugend eine Bewegung, einen Teil, der an den Sorgen und Nöten des nomadischen Proletariats Anteil nimmt und der sogar – denn es ist immer die Jugend, von der so etwas ausgeht – einer neuen kommunistischen Hypothese gegenüber aufgeschlossen ist. Ich glaube, dass ein Teil der Jugend in diese Richtung mobilisiert werden kann, auch deswegen, weil sie sich nach einer anderen Zukunft sehnt. Sie sehnt sich im Grunde danach, eine Form der Modernität zu erfinden, die nicht verbrecherisch ist.“ (Badiou 2017: 51f.)
Badiou fordert eine Politik, die der vom Abendland enttäuschten Jugend etwas Positives anbietet. Wir verstehen dies als zentralen Bildungsauftrag, jenseits von ‚Löcherstopfen‘ und Debatten um gemeinsame Werte, die ohnehin allzu schnell verraten und verkauft werden, unsere Welt(en) gemeinsam solidarisch neu zu vermessen.
„Ich denke, dass es unerlässlich ist, der heutigen Jugend etwas anzubieten, das es ihr ermöglicht, ihre Verbitterung und ihre Enttäuschung über das Abendland in etwas Positives umzuwandeln, statt in etwas Negatives!“ (ebd.: 86f.)
Eine etwas andere Beschreibung des gleichen Sachverhalts findet sich in dem Jugendroman ‚Brando‘, der in einfühlsamer Weise die Herausforderungen zweier Jugendlicher in einem schwierigen Umfeld schildert, in dem das Zusammenleben zur Bürde und zum alltäglichen Überlebenskampf geworden ist. Mit sehr viel Fingerspitzengefühl und Sympathie für die Hauptfiguren schildert der Autor, wie es den beiden Helden gelingt, ihren eigenen Kopf mit häufig haarsträubenden und am Rande der Legalität manövrierenden Strategien und Streichen nur knapp aus der Schlinge zu ziehen. Dabei haben sie sagenhaft viel Glück und dies scheint dann auch – bei allem Anspruch auf realistische Darstellung der Lebenswelten der Jugendlichen – ein Beitrag zur Wiederherstellung von Gerechtigkeit in einer durch und durch ungerechten, lebensfeindlichen Welt zu sein, den der Autor hier mittels der Literatur leistet. Darin liegt dann vielleicht auch das folgende Versprechen: nämlich, dass es eine Form von Gerechtigkeit gibt. Die Frage, wie der Boden dafür bereitet werden könnte, bildet dabei den heimlichen Bezugspunkt der so eindrücklich erzählten Abenteuer. Es bleibt die folgenreiche Einsicht der beiden Protagonisten, dass es jenseits ihres gewohnten Lebensraums auch noch eine gänzlich andere Welt gibt. Dieses Erkennen erfüllt ‚Brando‘ mit einem Schwindel – es verändert seine bisherige Sicht auf seine Welt als eine von vielen. Es ist zudem ein Bekenntnis zur Wirkmächtigkeit von Literatur: unsere Welt als eine von vielen zu begreifen und zugleich die vielen Welten als Teil unserer Welt.
„Brando musste daran denken, dass all diese Orte vielleicht einen Blitzmerker-Kiosk hatten, einen Ola, einen Larsa, eine Konsumtante, einen Spielplatz – aber mit anderen Namen. Das war ein Schwindel erregender Gedanke. Seine eigene Welt wurde nur zu einer der vielen. Vielleicht trugen ja alle Menschen ihre Welt mit sich herum. Gab es dann so viele Menschen wie Welten? Eine Welt starb, wenn jemand starb, und wenn jemand geboren wurde, wurde eine Welt geboren.“ (Engström 2018: 263)
„Fast niemand, der tagträumt, träumt dystopisch, weshalb der Tagtraum eine Produktivkraft ist, die, wie Ernst Bloch gezeigt hat, eng mit dem Wünschen verwandt ist.“ (Welzer 2019: 59)
Einerseits hat die Tätigkeit des Phantasierens/Tagträumens eine entlastende, kompensatorische Funktion. Andererseits eröffnet sie ein ganzes Refugium unterdrückter Wünsche und neuer gedanklicher, vielleicht auch tatsächlicher Möglichkeitsräume. Hierin liegt auch ihr utopisches und gesellschaftsveränderndes Potenzial. Angesichts einer neoliberal geprägten Gegenwart, die das menschliche Handeln zunehmend an ökonomischen Prinzipien wie Effektivität, Leistung und Selbstoptimierung misst, möchte das Morgenmachen-Lesebuch dazu beitragen, das subversive Potenzial unserer widerständigen und widerspenstigen Existenz in der Figur des Traumtänzers (wieder)zubeleben. Der hier angesprochene Doppelcharakter unserer Conditio humana sichert nicht ‚nur‘ unser (Über-)Leben, sondern vermag – wie Harald Welzer hervorhebt – auch das Versprechen auf ein ‚gutes Leben‘ in uns wachzuhalten.
„All diese Träume [...] perforieren die Wirklichkeit; die Träumende schafft sich momentweise eine andere Welt, in der sie sich aufhalten kann, und zwar eine bessere Welt.“ (ebd.: 59)
Dabei soll hier nicht etwa blindem Tatendrang das Wort geredet werden, eher gilt es eine dritte Option zwischen Tun und Nichtstun in Aussicht zu stellen. So beschreibt Joseph Vogl in ‚Über das Zaudern‘ die Schwelle zwischen Handeln und Nichthandeln als einen „Zwischenraum rein schöpferischer Potenz und Kontingenz“ (Vogl 2007: Einband). Es gilt, die Erfahrung und Potenz von Schwellensituationen – dieses ‚Mit-offenen-Augen-Träumen‘ – produktiv zu machen, um beständig neu auszuloten, was gegenwärtig alles denkbar, auffindbar und machbar ist. Auch dies scheint mir eine zentrale Erfahrung dieser Tage zu sein, die wir – als dem Status quo sich widersetzende Residuen – im Zuge unserer Rückkehr in eine vermeintliche Normalität unbedingt hinüberretten sollten. Corona hat alle Formen dessen, wie wir unser Leben bestellen, zunächst mit einem großen Fragezeichen versehen. Wie kann es gelingen, diese Erschütterung und Verunsicherung in etwas Positives zu verwandeln, das über die Krise hinauswirken kann? Wie ist es möglich, die ‚schöpferische Potenz und Kontingenz‘ nicht als Ausnahmereflex nur hinzunehmen, sondern vielmehr als Normalzustand unserer krisenerfüllten Gegenwart zu akzeptieren sowie uns zu dem (innewohnenden) Potenzial zu bekennen und mutig neue Trampelpfade zu erproben?
„Es gibt einen Imperativ der Zuversicht. Er besteht nicht darin, Gefahren kleinzureden. Er besteht auch nicht in Beschwichtigungen der Art ‚es wird bestimmt alles gut‘ oder ‚das schaffen wir schon‘. Wer Kinder hat, weiß, dass in gemeinsamen Gesprächen über den Zustand der Welt solche Entgegnungen ganz schnell als Ausflüchte entlarvt werden. Nein, der Imperativ der Zuversicht kann nur parallel zum Ausdruck gebracht werden. Auf der einen Seite muss die Analyse des Problems stehen, auf der anderen die Suche nach dessen Lösung im Vertrauen darauf, eine zu finden.“ (Lehming 2021)
Wir stehen am Scheideweg. Und wissen nicht, ob der sogenannte Kipppunkt nicht schon überschritten ist. Was bedeutet dies für unsere Art, in der Welt zu sein? Welche Konsequenzen hat es für unser Fühlen, Handeln und Denken?
„Ohne ein realistisches Bild von uns selbst und von der Wirklichkeit, in der wir uns befinden, sind wir verloren.“ (Kittlitz 2021)
Als bewegten wir uns blind und taub in der Welt, so mag unsere präpandemische Existenz angesichts des unfreiwilligen Erwachens erscheinen, dieser Vertreibung aus dem ‚Paradies‘, das wir so teuer erkauft haben. Wo finden wir unser Bild inmitten dieser veränderten und ansatzweise auch verfinsterten Wirklichkeit wieder? Wie kann uns dieses (neue) Bild unserer verwunschenen Existenz beflügeln, etwas (Neues) anzufangen? Wohin legen wir unser müdes Haupt, wenn der Abend über uns hineinbricht? Was raten wir dem Freund, wenn der viel zu frühe Nebel seine Sicht verstellt? Was, wenn der Morgentau unsere Lider dunkel färbt?
„Der Mathematiker, der an einem Problem arbeitet, braucht zumindest die sichere Überzeugung, dass das Problem lösbar ist, auch wenn er überhaupt nicht sieht wie. Er müht sich ab, um es zu lösen. Die Überzeugung ist die oberste Tugend der Politik. Aber es gibt noch eine andere, und das ist die Zuversicht: die Zuversicht, dass das Problem gelöst werden kann. Ich verstehe nicht, warum man nicht Künstler oder Wissenschaftler zum Vorbild nimmt.“ (Badiou 2017: 94)
Vielleicht haben wir einfach noch nicht verstanden, was wir uns ständig versagen, wenn wir uns angstvoll auf unsere Scholle zurückziehen. Vielleicht haben wir noch gar nicht probiert, etwas zu probieren, da wir immer noch mit dem Altbekannten hantieren. Vielleicht haben wir eine Handvoll Zuversicht längst in uns begraben und warten darauf, dass jemand uns (neu) verzaubert. Vielleicht haben wir eine Chance.
„The work of the poet within each one of us is to envision what has not yet been and to work with every fiber of who we are to make the reality and pursuit of those visions irresistible.“ (Lorde 1995)